Brunnenaugen

Bubbles

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I begegnete vor kurzem einem Holzbrunnen in Guggisberg. Genau genommen bin ich ihm schon dutzend Male begegnet, doch diesmal war es etwas anders…

In dem Brunnen gurgelt das klare Quellwasser Tag und Nacht wie ein kleiner Chor von lustvoll spielerisch angeregten Kleinkindern. Das macht der Brunnen so konsequent, dass er darob rasch mal vergessen geht. Dinge die stes da sind, Tag und Nacht uns begleiten gehen vergessen. Es scheint, als ob sie aus unserem Alltag verschwinden, unsichtbar werden.

Unser Hirn kann nicht jede Information verarbeiten, die das sensorische System (die Rezeptoren) von der Aussenwelt aufnimmt und
dem Hirn anliefert. Daher muss das Hirn Prioritäten bei der Verarbeitung setzen. Dinge die keine oder eine sehr geringe Priorität erhalten, gehen “verloren”, werden nicht bewusst wahr genommen. Gerade Dinge die unser Hirn ganz rasch in eine Schublade legen kann, laufen in Gefahr ignoriert zu werden. Einmal identifiziert fallen sie dem mentalen Ignorier-Filter zum Opfer. Erst wenn etwas sich ändert, wenn der Brunnen gestohlen, oder morgens plötzlich rosarot da stehen würde, dann erhielt er wieder genügend Aufmerksamkeit. Das ist auch gut so. Es ist eine physiologisch wichtige und sehr hilfreiche Sache.

Wir können mit diesem Mechanismus der Priorisierung von bewusster Wahrnehmung gut leben und müssen auch nichts übersehen. Wir sind nicht gezwungen, Dinge zu ignorieren. Es ist immer eine Frage des Kontextes, welche Prioritäten unser Hirn setzt. Wenn wir also den Kontext während der Beobachtung ändern, so wird auch die Priorität geändert und plötzlich sehen wir viel mehr.

In The Good Eye, der Lernplattform für kreative Fotografie, habe ich eine entsprechende Übung formuliert. Ich habe sie die “Was-Noch”-Übung genannt und sie ist völlig einfach aber äusserst wirkungsvoll: Ganz grob gesagt nimmt man sich ein “Ding” das einem ausreichend banal vorkommt. Etwas, das sich schon nach Bruchteilen einer Sekunde klar Identifizieren lässt. Dann stellt man sich die Frage “was sehe ich noch, ausser dass es ein XY ist?”. Und diese Frage wiederholt man vielleicht zehn, zwanzig oder auch hundert Mal. Ich garantiere dir, es gibt auch nach 100 Iterationen noch Details zu sehen, die in den 99 vorherigen Betrachtungszyklen nicht auftauchten.

Mit dieser Erfahrung im mentalen Rucksack wird sofort klarer, dass die Welt deutlich reichhaltiger ist, als unser Hirn das in einem Durchgang erfassen kann. Das Leben wird reichhaltiger, bunter, spannender, frischer, überraschender, befriedigender und noch viel mehr. Versuchs doch mal…

In dem besagten Brunnen entdeckte ich an diesem Tag unzählige Bläschen. Die Sonnenstrahlen und der Schatten der Brunnenwand tauchten die Bläschen in ein Spannungsfeld des Lichtes und die Farben verführen zu wilden Assoziationen. So schön, so spannend kann ein Brunnen sein, den man so einfach ignorieren könnte… 😉

have a good day.
Roland


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